4 Quadranten – 8 Zonen

Komplementarität

Die Quantenphysik und Relativitätstheorie hat uns auf einem ganz anderen Gebiet als der Medizin und Therapie gelehrt, dass wir unterschiedliche Antworten bekommen, wenn wir unterschiedliche Fragen stellen: wenn wir eine Teilchenfrage stellen, bekommen wir eine Teilchenantwort, wenn wir eine Wellenfrage stellen, bekommen wir eine Wellenantwort. In der Physik der kleinsten Teilchen müssen wir sowohl die Wellennatur wie auch die Teilchennatur betrachten, um die physikalische Realität zu beschreiben. Wir können eine Beziehung zwischen zwei Größen, die nicht ineinander überführbar sind, komplementär nennen.

Befinden und Befunde

Wenn wir uns mit dem Menschen befassen, scheinen immer zwei Möglichkeiten der Herangehensweise zu bestehen:

Diese zwei Betrachtungsweisen sind nicht ineinander überführbar und schließen einander aus, wenn man sie isoliert anwendet, sie sind zueinander komplementär. In der Philosophie besteht ein langer und ungelöster Streit über dieses sogenannte „Harte Problem“ der Philosophie, wie man diese grundlegende Dichotomie lösen könnte, der so lange besteht, wie Menschen philosophieren.

Wir müssen im menschlichen Bereich (und wahrscheinlich auch noch darüber hinaus) sowohl das Innere des Menschen, sein Befinden, erfassen wie auch sein Äußeres, die Befunde, um ihm gerecht zu werden

Einzelne und Gruppen

Das zweite Paar an Betrachtungsweisen, die nicht ineinander überführbar sind, ist die Betrachtungsweise des Einzelnen und die Betrachtungsweise der Bezüge, die auf den Einzelnen Einfluss nehmen, die er oder sie aber auch aktiv - autopoietisch - gestaltet.

Diese grundlegenden, zueinander komplementären und nicht ineinander überführbaren Perspektiven können wir nicht nur in Bezug auf die Menschliche Ebene und auf die Medizin finden, sondern sind ganz allgemein die vier grundlegenden Perspektiven, aus denen wir die Welt und uns selbst betrachten können. Verschiedene Philosophien und wissenschaftliche Disziplinen haben jeweils einzelne von ihnen herausgestellt und weiter untersucht. Ken Wilber hat das große Verdienst, zu erkennen, dass diese Perspektiven so grundlegend und allgemeingültig sind, dass sie in jedem Einzelfall berücksichtigt werden müssen, wenn wir ein einigermaßen vollständiges Bild der Realität erhalten wollen, und hat diese Perspektiven als die vier Quadranten der Wirklichkeit bezeichnet.

die vier Quadranten

die vier Quadranten

Die 8 Zonen oder ursprünglichen Perspektiven

Wir haben mit den Quadranten grundsätzliche Bereiche abgesteckt, auf welche Art wir jedes Wesen, und im Besonderen den Menschen betrachten und verstehen können. In Bezug auf konkretes Handeln ist aber noch eine weitere Unterscheidung notwendig, auch wenn dies die Lage auf den ersten Blick unnötig zu komplizieren scheint - die 8 Zonen oder ursprünglichen Perspektiven bzw. Methodologien. Wilber hat mit diesen 8 Zonen ein sehr hilfreiches Instrument geschaffen, wie wir Herangehensweisen noch klarer unterscheiden können:

die 8 Zonen

die acht Zonen

Zur Erklärung:
Es ist ein großer Unterschied, ob ich mein Inneres direkt von innen erlebe, wenn ich z. B. wütend bin, die Freude eines beglückenden Konzertes erlebe, oder mich traurig und depressiv fühle, oder ob ich andererseits all dies von außen betrachte, sei es an mir selber oder an einem anderen Menschen, und es aus einer neutralen Position beurteile. Beide Male geht es um das Innenleben einer Einzelperson, einmal von innen, einmal von außen betrachtet. Und genau diese Unterscheidung zwischen der Innen- und Außenperspektive wird durch die Zonen in allen vier Quadranten getroffen. Ich werde sie der Reihe nach im Folgenden durchgehen:

    Das Innere des Einzelwesens - linker oberer Quadrant

  1. Zone #1: Das Innere eines Einzelwesens von innen betrachtet
    "Ich bin traurig", "Ich fühle mich heute hervorragend", "Ich denke über dieses oder jenes nach". Alle diese Aussagen betreffen das unmittelbare Erleben eines Einzelwesens, einer ersten Person singular, eines "Ich". Es gibt Methoden, um diesen Bereich zu erforschen, z. B. Phänomenologie, Innenschau, Meditation. Hier ist das Entscheidende die unmittelbare Erfahrung meines Innenlebens (des Erfahrenden, dessen, der spricht).
  2. Zone #2: Das Innere eines Einzelwesens, von außen betrachtet
    "Dieser Mensch leidet an einer Depression", "Ich konnte ihm dabei zuschauen, wie ihm nach diesem Erlebnis der ganze Lebensmut verloren ging", etc. Wir sind Zeugen eines Geschehens, das sich im Inneren eines Einzelwesens abspielt und wir betrachten dieses Innenleben von außen. Dies wird sprachlich durch die Früwörter "Er - der Mann", "Sie - die Frau" und "Es - das Kind" ausgedrückt. Wir brauchen diesen Außenblick, um Regelmäßigkeiten und Muster erkennen zu können, um einen Zustand mit einem anderen vergleichen zu können, um systematisieren und diagnostizieren zu können. Es ist z. B. der diagnostische Blick eines Psychologen auf die Psyche eines anderen. Die Methoden dieser Zone werden als Strukturalismus bezeichnet, weil sie einen strukturierten, systematisierenden Blick auf das Innenleben eines Menschen erlauben.
  3. Das Innere der Gruppe - linker unterer Quadrant

  4. Zone #3: Das Innere einer Gruppe, von innen betrachtet
    "Wir verstehen diese Aussage in diesem Sinn", "Verstehe ich dich richtig, dass Du dieses und jenes so und so gemeint hast?" "Ihr empfindet in dieser Beziehung aber ganz anders als Wir" "Sie glauben an einen anderen Gott als wir". In dieser Zone geht es um das direkte Erleben gemeinsamer Werte, Bedeutungen und Urteile, die nur aus einem gemeinsamen Kontext her verständlich sind. Eine Familie, ein Volk, eine Gemeinschaft hat gemeinsame Traditionen und vieles von dem Erleben seiner Mitglieder ist nur aus diesen erklär und deutbar. Deshalb ist die Hermeneutik, die Lehre der Interpretation oder Bedeutungsgebung die Methode dieser Zone. In der Soziologie ist es die Teilnehmende Beobachtung, wobei in dieser Zone der Akzent auf dem Teilnehmen liegt, die es ermöglicht, Erfahrungen in einer Gruppe aus erster Hand (1. Person plural) zu machen. Die Bedeutung von Krankheit in einer bestimmten Gruppe oder Kultur kann sich jeweils stark unterscheiden. Wie fühle ich mich als Homosexueller in einer Gesellschaft, die diese sexuelle Neigung als Krankheit ansieht? Wie ging es einem Pestkranken in einer Gesellschaft, die Pest als Strafe Gottes ansah?
  5. Zone #4: Das innere einer Gruppe, von außen betrachtet
    In dieser Zone liegt der Akzent nicht auf der Teilnahme, sondern auf der Beobachtung und der Systematisierung und Strukturierung des Beobachteten. "Viele indigene Völker haben eine schamanische Tradition", wäre eine Aussage, die aus der Perspektive und mit den Methoden dieser Zone, der Anthropologie und Ethnomethodologie gemacht wurde. Homosexualität wird in manchen Kulturen als Krankheit angesehen, Epilepsie in anderen als Hinweis auf eine schamanische Begabung. AIDS führte lange zu sozialer Ächtung, Alkoholismus kann als Krankheit oder als Charakterschwäche interpretiert werden. All dies hat große Bedeutung für den Kranken und die Gesellschaft, in der er lebt. Es sind die gesellschaftlichen Urteile, die gefällt werden, und die untersucht und systematisch dargestellt werden können. Doch ist die Perspektive eine Außenperspektive: "Sie" erleben so und so. Es ist die Perspektive auf eine 3. Person plural.
  6. Das Äußere des Einzelwesens - rechter oberer Quadrant

  7. Zone #5: Das Äußere des Einzelwesens, von innen betrachtet
    "Diese Wunde heilt von selbst wieder"; "Der Mensch verfügt über ein großes Selbstheilungspotential"; "Das Gehirn hat die Fähigkeit, selbst nach dem Verlust von Hirngewebe, z. B. durch einen Schlaganfall, viele Funktionen durch eine Neuorganisation wieder zurückzugewinnen". Alle diese Aussagen gehen von der Selbstorganisationsfähigkeit und Selbstregenerationsfähigkeit eines Einzelwesens aus. Diese Fähigkeit wird als Autopoiese bezeichnet, deren Erforschung die Methode dieser Zone ist. Die erstaunlichen Fähigkeiten von Organismen zur Selbst-Erschaffung, Selbst-Heilung und Selbst-Regeneration. In der Medizin sind es Methoden, die die Selbstregeneration anregen und unterstützen.
  8. Zone #6: Das Äußere eines Einzelwesens, von außen betrachtet
    "Dieser gebrochene Knochen muss zuerst wieder in seine natürliche Position gebracht werden, bevor er heilen kann"; "Die Bauchspeicheldrüse ist durch die Entzündung so zerstört, dass sie kein Insulin mehr produzieren kann. Dieser Patient muss Insulin spritzen". Wir sehen in diesen Aussagen, dass es nicht um die Selbstorganisation geht, sondern um den Eingriff von außen. Zuerst darum, einen nüchternen, sachlichen und neutralen Blick von außen auf den Zustand eines Einzelwesens zu werfen, sich ein Urteil zu bilden und dann nach diesem Urteil zu handeln. Der Betrachter sieht sich einer Sache gegenüber, einem "Es", nicht einem empfindenden Wesen. Wir sind in der Domäne der Empirie, der Naturwissenschaften, Physik, Chemie, Biologie, Schulmedizin.
  9. Das Äußere der Gruppe - rechter unterer Quadrant

  10. Zone #7: Das Äußere der Gruppen oder Systeme, von innen betrachtet
    "Nachdem dieser Ameisenhaufen zerstört wurde, haben sich die Ameisen rasch wieder neu organisiert"; "Das Ökosystem dieser Insel hat nach der verheerenden Katastrophe lange gebraucht, um sich zu erholen". Bei Ameisen scheint es klar, dass sie Gruppenwesen sind und ihr Ökosystem mitgestalten. Aber man kann sagen, dass diese Feststellung für jedes Lebewesen gilt. Die Lebensfähigkeit des Einzelnen ist nur durch ein feines Zusammenspiel mit allen anderen in einem fragilen Gleichgewicht möglich. Dieses Gleichgewicht herzustellen oder wieder zu gewinnen, bezeichnen wir als soziale Autopoiese, deren Erforschung die Methodologie dieser Zone ist. Die Perspektive ist ein Blick auf die äußeren Lebensumstände von innen, gleichsam vom Standpunkt der Ameise oder des Inselbewohners, der betroffen ist. Aber nicht, wie sie sich sich fühlen (Zone #5), sondern wie er welche äußeren Bedingungen in Zusammenarbeit mit anderen herstellen kann. In der Medizin sind es Selbsthilfegruppen, selbstorganisierende Unterstützungssysteme, die aus der perspektive dieser Zone heraus arbeiten.
  11. Zone #8: Das Äußere der Gruppen und Systeme, von außen betrachtet
    "Wenn wir nicht den Ausstoß von Treibhausgasen rasch und deutlich reduzieren, werden die Meeresspiegel so stark ansteigen, dass viele Inseln unter gehen werden". "Es gibt viele globale Variable, die lokale Variable beeinflussen, und umgekehrt". In dieser Zone beobachten wir von außen den Ameisenhaufen, das Geschehen auf der Insel. Die Systemtheorie beschreibt das Zusammenspiel dieser globalen und lokalen Variablen, und kann verschiedene Modelle berechnen und damit bestimmte Vorhersagen treffen. In der Medizin sind es die Gesundheitssysteme, die staatlichen und privaten Versicherungen, die Krankenanstalten und Ambulatorien, alle Institutionen und Strukturen, die notwendig sind, damit der Einzelne eine bestimmte Gesundheitsbezogene Leistung erhalten kann.

Ich hoffe, dass aus dem Gesagten klar geworden ist, warum es notwendig und hilfreich ist, diese Unterscheidungen zu treffen, will man verschiedene medizinische und therapeutische Herangehensweisen in ein umfassendes System integrieren. Homöopathie und Schulmedizin z. B. können so als paradigmatische Vertreter der Zonen 5 und 6 betrachtet werden, die sich nicht ausschließen sondern gegenseitig ergänzen. Ohne die Unterscheidung der Zonen bliebe der Unterschied zwischen diesen beiden Methoden der unauflösliche Widerspruch, als der er schon über so lange Zeit gesehen wird, mit Hilfe der Unterscheidung zwischen Autopoiese und Empirie kann dieser Widerspruch in einen Kontrast, eine Komplementarität verwandelt werden.

Elemente eines integralen Weltbildes:

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