Mein Weg im Siddha Yoga

Im Dezember 1991, ich war in den Reisevorbereitungen für ein Homöopathie-Seminar, das mich für 6 Wochen nach Bombay führen sollte, kam eine bekannte Therapeutin in unserer Wohnung vorbei, die schon viel in Indien gereist war, und von der ich wusste, dass sie auch in einigen Ashrams (Wohn und Lehrstätten eines spirituellen Lehrers, Gurus) gewesen war. Ich fragte Sie, ob es auch in Bombay einen Ashram gäbe, und sie sagte, da wäre nicht weit entfernt, in Ganeshpuri, der Ashram von Baba Muktananda und Gurumayi Chidvilasananda. Ich nahm die Information beiläufig auf, und dachte nicht mehr weiter daran, obwohl mir die Namen „Muktananda“ und „Gurumayi“ schon von Stanislav Grof und den Atemseminaren bei Sylvester Walch entfernt bekannt waren. Zu dieser Zeit war ich an spirituellen Dingen schon interessiert, ich hatte mich mit verschiedenen esoterischen Richtungen beschäftigt und hatte seit einigen Jahren an Atemworkshops teilgenommen.

Als ich dann einige Wochen später im Flugzeug nach Indien saß, und darüber nachdachte, was ich mir von diesem Aufenthalt wünschen würde, kam mir in den Sinn, dass ich mir ein Mantra wünschen würde. Ein Mantra, eine heilige Silbe, die mich von innen her verwandeln und leiten könnte. Ich hatte die Vorstellung, ich würde vielleicht irgendwo in Bombay von einem alten, bärtigen, weisen Mann hören oder zufällig an seiner bescheidenen Behausung vorbeigehen, ich würde mich zu ihm setzten und um Einweihung bitten, und dann würde er mir eine heilige Silbe, geladen mit seiner ganzen spirituellen Kraft, ins Ohr flüstern. Diese Silbe würde mich von da an immer begleiten und meine Entwicklung von innen her unterstützen, bis sie ans Ziel der Erleuchtung gelangen würde. Doch bei all meinen Spaziergängen und Fahrten in den verschiedensten Gegenden von Bombay – wir hospitierten auch bei verschiedenen Ärzten im ganzen Stadtgebiet und kamen recht weit herum – traf ich keinen alten bärtigen Guru. Und so fiel mir wieder ein, dass ich ja von einem Ashram schon in Österreich gehört hatte. An einem freien Tag bestieg ich zusammen mit einer Kollegin die Vorortelinie, fuhr bis zur Endstation und dann mit einem kleinen Dreiradtaxi weiter in Richtung Ganeshpuri. Zuerst fuhren wir auf einer vielbefahrenen Hauptstraße, viele bunt bemalte und geschmückte Lastkraftwagen qualmten uns mit ihrem Dieselgestank voll, während sie uns überholten. Dann, als die große Stadt schon weit hinter uns lag, bogen wir auf eine Nebenstraße ein und kamen in eine ländliche Gegend. Ärmlich gekleidete dunkelhäutige Arbeiter zerkleinerten am Straßenrand große Steine mit schweren Schlägeln für den Straßenbau, Kinder kneteten in den Lehmgruben der Ziegeleien mit ihren bloßen Füßen den Lehm, der dann mit den Händen in hölzerne Formen gefüllt und später in großen, regelmäßigen Anordnungen zum Trocknen und Brennen aufgeschichtet wurde. Neben dem Straßenrand gingen stolz und aufrecht Frauen mit mehreren Gefäßen auf dem Kopf von der weit entfernten Wasserstelle zu ihrem Dorf zurück. Das ländliche Indien hatte mich in seinen Bann gezogen. So verging die Fahrt recht rasch und als wir schließlich vor dem Ashram abgesetzt wurden, war ich fast ein wenig enttäuscht, als ich die hohe Einzäunung sah. War das mit meinem christlichen Ideal vereinbar, offen für die Armen und Bedürftigen zu sein? Wir stellten uns bei der Rezeption vor und wurden bald von einem freundlichen jungen Mann empfangen und im weitläufigen Areal des Ashrams herumgeführt. Es war wie in einer anderen Welt. Eine paradiesische Blumenpracht, überall Palmen und schattige Wege, an denen Statuen von Heiligen und Symbole der Verschiedenen Religionen standen. Ein Buddha genauso wie eine Christusstatue neben verschiedenen Figuren aus der indischen Mythologie. Der Ort strahlte eine starke gesammelte und klare Energie aus, die die Hektik der Millionenstadt weit entfernt erscheinen ließ. Wir erfuhren an diesem ersten Tag, dass Gurumayi, das Oberhaupt dieser spirituellen Richtung, gerade in einem anderen Ashram im Staat New York war, wir sie also nicht sehen konnten. Abends wurde dann die Videoaufzeichnung einer Lehrrede von ihr gezeigt, und ich ließ die Lehren einmal auf mich wirken. Ich spürte dabei meiner inneren Resonanz nach, ob ich innere Widersprüche empfand, und wo ich mich wohl und aufgehoben fühlte. Ich war erstaunt, wie sehr ich mich hier heimisch und zu Hause fühlte, in dieser fremden Kultur. Aber das, was ich hörte, traf auf eine tiefe innere Sehnsucht und war Nahrung für einen Hunger, den ich schon lange verspürt hatte. Allerdings hatte ich doch mit einem Vorurteil zu kämpfen: Ich hatte mir doch einen bärtigen, alten, weisen Mann erwartet, und sah nun eine junge, ausgesprochen attraktive Frau in den Dreißigern, die gut auch auf die Titelseite eines Hochglanzmagazins gepasst hätte. Das war dann doch einigermaßen befremdend für mich, als ich die alte Weisheit aus diesem jungen Mund kommen hörte. Sollte ich deshalb die alte Weisheit nicht annehmen? Ich entschloss mich, doch eher mein Vorurteil in Frage zu stellen. Als wir dann in dieser klaren, lauen Vollmondnacht Anfang Februar wieder den Heimweg antraten, hatte ich das Gefühl, nach einer langen Reise endlich angekommen zu sein, und ich hatte das Gefühl, dass etwas sehr Wichtiges in meinem Leben geschehen war.

Wir hatten dann, einige Zeit später, noch das Glück, dass gerade während der zwei freien Tage, die wir beim Homöopathieseminar hatten, im Ashram ein Intensivseminar gehalten wurde, bei dem Shaktipat gegeben wird (Shaktipat ist eine Einweihung, bei der es zur Übertragung der spirituellen Energie vom Meister auf den Schüler kommt, wobei auf einer subtilen Ebene die Illusion der Getrenntheit und Unvollkommenheit aufgehoben wird). Wir fuhren wieder in den Ashram und nahmen daran teil, und ich hatte während einer Meditation die Erfahrung, dass die gesamte erfahrbare Welt aus mir entstand und wieder zu mir zurückkehrte. Ich nahm das nicht so wichtig und bemühte mich, einen möglichst objektiven und neutralen bis kritischen Standpunkt beizubehalten bei allem, was ich hier erfuhr, sah und erlebte. Besonders behielt ich mir die innere Freiheit, innerlich zuzustimmen, so weit ich das konnte, und auch Nein zu sagen, wenn ich das nicht konnte. Obwohl es in den kulturellen Ausdrucksformen viel Fremdartiges gab, erfuhr ich doch inhaltlich viele Offenbarungen in den Ansprachen, Übungen und Meditationen. Also sagte ich mir, ich werde einfach diesen Weg einmal probeweise gehen, so lange, bis ich auf ernsthafte Einwände stoße.

Wieder nach Hause zurückgekehrt begann ich Meditationsabende und Kurse zu organisieren, zu meditieren und die Mantren zu singen. Ganz nebenbei hatte ich in Ganeshpuri auch ein Mantra kennengelernt: OM NAMAH SHIVAYA – Ich verneige mich vor dem Selbst (hier als Shiva bezeichnet), das in allem wohnt. Dieses Mantra entspricht in der Bedeutung ziemlich genau dem, was ich schon als Kind zu beten gelernt hatte: „DEIN Wille Geschehe“. Und so begann die Suche nach dem, was dieses „Shiva“, dieses „Dein“, dieses „Selbst“ bedeuten könnte.

1994 begegnete ich Gurumayi dann das erste Mal. Ich war mit meiner Frau und mit meiner dreieinhalbjährigen Tochter wieder nach Indien in den Ashram gefahren, wir wussten, dass Gurumayi diesmal dort sein würde. Jeden Morgen saß sie im Hof des Ashrams und eine lange Reihe von Menschen stellte sich zum Darshan (wörtlich: „Erscheinung“, die Begegnung mit dem spirituellen Lehrer in Form seiner körperlichen Präsenz, seines Bildes, oder in einem Traum) an, ich reihte mich ein und ging bis vor ihren Stuhl, wo ich mich vor ihr verneigte. Ich sah schon, dass sich manche bei den Mitarbeitern von Gurumayi anmeldeten, wenn sie neu waren, und ihr dann vorgestellt wurden, aber ich wollte das nicht gleich machen. Als ich am dritten Tag wieder an der Reihe war, und mich vor ihr verneigte, wie es alle taten, deutete sie mir, mich vorne hinzusetzen. Sie ließ mich durch den daneben sitzenden Swami (Mönch) fragen, woher ich käme, welche Art von Sewa (freiwillige Arbeit, Dienst) ich im Ashram hätte, und redete einige Minuten mit mir. Dann entließ sie mich. Nach dieser Begegnung ging ich in den Meditationskeller unterhalb des Begräbnisschreines von Baba Muktananda, dem Vorgänger von Gurumayi, und weinte. Es waren Tränen des Berührt seins und eines tiefen Gefühles des Gesehen werdens, des angenommen und aufgenommen seins. Ich weiß bis heute nicht, warum sie mich aufforderte, mich hinzusetzen und mich vorzustellen. Kennt sie wirklich jeden ihrer tausenden Schüler so weit, dass sie weiß, ob sich jemand schon einmal vorgestellt hat bei einer dermaßen großen Anzahl von Schülern, die teils schon viele Jahre dabei sind und andere, die neu dazukommen? Ich weiß es nicht. Auch meine Frau und meine Tochter fühlten sich sehr gut aufgenommen trotz der schwierigen äußeren Bedingungen, da sehr viele Erwachsene und Kinder auf engem Raum zusammenleben mussten.

Im Siddha Yoga gibt es eine große Vielfalt an spirituellen Übungen, für die man sich entscheiden kann. Neben der Meditation, die sicherlich eine zentrale Stellung einnimmt, gibt es die Seva (selbstlosen Dienst), Dakshina (das offenherzige Spenden, die Übung des Gebens), Studium heiliger Schriften, Hatha Yoga (körperliche Yogaübungen), Japa (das fortwährende Wiederholen des Mantras), Nama sankirtana (das Singen der Namen Gottes), sowie Swadhyaya, das Singen und rezitieren längerer mantrischer Texte wie des Rudram, der Baghavat Gita oder der Guru Gita.

Die Guru Gita, ein aus 180 Strophen bestehender Text, wird jeden Morgen im Ashram gesungen, was mitsamt der begleitenden Mantren und Lieder etwa 90 Minuten dauert. Im Ashram ist es eine zentrale Übung, und ich fand großen Gefallen an ihr, obwohl es einige Zeit dauert, bis man den Text halbwegs richtig aussprechen kann, da alles in Sanskrit gesungen wird. Ich merkte bei dieser Übung relativ rasch einen Erfolg. Ich spürte jedes Mal etwas wie ein innerliches Geraderichten, ein innerliches Geordnet werden. Dies bezog sich nicht nur auf mein Körpergefühl, sondern auch auf meine sonstigen Gefühle und Gedanken. Es begannen sich relativ regelmäßig und reproduzierbar bei und nach dem Singen dieses Textes  die Erfordernisse des Tages nach ihrer Wichtigkeit zu ordnen. Ich wurde fähiger, Begonnenes abzuschließen. Ich spürte innerlich etwas, das mich durch eine bestimmte Erfahrungssequenz des Alltags durchtrug und mir einen guten Abschluss ermöglichte, so dass viel weniger offene Gestalten zurückblieben. Oft tauchten bei oder nach dem Singen der Guru Gita wichtige Einsichten und Erkenntnisse in meinem Bewusstsein auf, so dass mein spiritueller Weg eine deutliche Energetisierung erfuhr. Wie gesagt erfuhr ich diese positiven Wirkungen sowohl in meinem Alltagsleben, beim Hausbauen, in der Arbeit, wie auch in meinem spirituellen Weg.

Zu Beginn des Jahres 1998 begann ich jedoch jedes Mal, wenn ich die Guru Gita sang, ein eigenartiges Ziehen in der Blasengegend zu spüren. Ich hatte das Gefühl, dass da etwas nicht in Ordnung ist. Ich machte eine Gesundenuntersuchung, bei der auch der Harn untersucht wurde und ein Ultraschall durchgeführt wurde. Alles war in Ordnung. Nur einige rote Blutkörperchen. Das kann man ja in einigen Monaten wieder kontrollieren, nichts Beunruhigendes. Ich spürte aber weiterhin dieses Ziehen, aber nur, wenn ich die Guru Gita sang. Also suchte ich einen Urologen auf. Wieder Ultraschall, wieder Harnuntersuchung, wieder derselbe Befund. Nichts Beunruhigendes. Dann bemerkte ich einmal ein kleines Blutgerinnsel in meinem Harn beim Wasserlassen. Jetzt bestand ich auf einer Blasenspiegelung. Ein Tumor wurde gefunden, er war bösartig. Ich wurde operiert, und der Tumor konnte vollständig entfernt werden. Ich bin seither Gott sei Dank gesund geblieben, weil der Tumor früh genug operiert werden konnte. Ich glaube, dass ich das neben der ärztlichen Kunst der Guru Gita verdanke, weil ich ausschließlich beim Singen jedes Mal gespürt habe, dass in meinem Körper etwas nicht in Ordnung ist, und ich dem nachgehen konnte. So konnten noch früh genug die notwendigen Schritte eingeleitet werden.

Das Zweite, das mich im Siddha Yoga ganz besonders anzog, waren die Schriften, die mir durch diese Tradition zugänglich wurden. Indien verfügt über einen großen Schatz an spiritueller und philosophischer Literatur, der aber im Westen nicht allgemein verfügbar ist. Im Siddha Yoga ist der Zugang zu diesen Quellen des Wissens offen und wird gepflegt. Swami Muktananda, der Vorgänger von Gurumayi hat viele Bücher über seine eigenen Erfahrungen und Einsichten, aber auch über deren Bezug zu dem alten indischen Wissen verfasst, und Gurumayi steht ihm nicht nach. Sie bereitet die alten Texte in ihren Kursen so auf, dass ihre Schüler nicht nur die Worte hören, sondern dass ihnen auch das innere Wissen, das in diesen Texten überliefert ist, zugänglich wird. Ich las gerne diese philosophischen Schriften von Baba Muktananda, wie z. B. das Buch „The secret of the Siddhas“, das den Kashmir Shaivismus behandelt, und habe innerlich mit diesen Texten längere Zeit gelebt.

Schließlich konnten wir, diesmal auch mit meinem damals drei Jahre alten Sohn, der die Familie vergrößert hatte, wieder in den Ashram fahren, diesmal nach South Fallsburg im Staat New York. Es gab dort für die Schüler, die auch leitende Aufgaben in den Meditationscentern auf der ganzen Welt erfüllten, die so genannte Global Conference, an der einige hundert Menschen teilnahmen. Von drei Universitätsprofessoren für Religionswissenschaften und Indologie wurden wir eine Woche lang in einen Text eingeführt, der aus nur zwanzig Versen besteht, dem Pratyabhinarhdayam. In diesen zwanzig Versen wird die gesamte Große Kette des Seins, von der Involution, dem Herabsteigen des Geistes bis in die Materie über die Evolution, die Entwicklung des Menschen bis zur Erkenntnis seiner Ungetrenntheit vom Göttlichen, beschrieben und den Schülern verständlich gemacht. Ich habe in einer früheren Ausgabe des Newsletter versucht, diesen Text auch Menschen, die nicht bei diesem Ereignis dabei waren, zugänglich zu machen, nachdem ich ihn mir über etwa zwei Jahre innerlich immer mehr zu eigen gemacht hatte und immer mehr zu verstehen begann. Ich kann sagen, dass dieser Text für mich zu einer Basis wurde, durch die mir viele andere spirituelle Texte auch aus anderen Traditionen, zugänglich wurden.

Die Arbeit Ken Wilbers hat mir bei vergleichenden Studien verschiedener spiritueller Traditionen sehr geholfen. Sein Werk baut auf einer verallgemeinerten Großen Kette des Seins auf, die er aus verschiedenen Traditionen extrahiert hat. Ich glaube allerdings, dass ich mit Wilbers Arbeit nicht so viel anfangen hätte können, wenn ich nicht meinem eigenen konkreten spirituellen Weg gefolgt wäre. Denn es ist etwas anderes, spirituelle Texte nur zu lesen als mit dem Segen und dem Willen eines Gurus, eines verwirklichten Meisters oder Lehrers, in einen solchen Text eingeführt, man kann auch sagen, initiiert zu werden. Im Buddhismus heißt diese Initiation in einen Text Ermächtigung, sich mit dem Text zu beschäftigen.

Ein weiterer wichtiger Aspekt meines spirituellen Weges waren die Atemsitzungen, die ich regelmäßig zweimal im Jahr besucht habe. Ich konnte dort viele problematische Aspekte meiner Biographie durcharbeiten und hatte neben Geburtserfahrungen, biographischen und körperlichen Erfahrungen auch einige Erfahrungen der Identität mit Tieren und Pflanzen sowie Lichterfahrungen. Ich konnte mich einer Gruppe von Menschen zugehörig fühlen, die sich ebenfalls auf einem Weg befanden, was von unschätzbarem Wert ist, weil man sich einerseits austauschen kann und andererseits die Erfahrungen, die für einen selbst etwas sehr Besonderes und Außergewöhnliches sind, relativieren kann und davor bewahrt wird, in Größenideen zu verfallen, weil man immer wieder miterlebt, dass auch die Brüder und Schwestern auf dem Weg Erfahrungen ähnlicher oder noch größerer Tiefe machen.

Vor etwa drei Jahren tauchte nun immer mehr die Erinnerung an Erfahrungen auf, bei denen ich in einem schwarzen Abgrund versank. Ich hatte solche Erfahrungen bereits bei einer meiner ersten Atemsitzungen und mir waren ähnliche Erfahrungen aus meiner Kindheit in dem Zustand vor dem Einschlafen bekannt. Ein tiefes Schwarz breitet sich aus, es ist absolut friedlich und ruhig, wenn man sich dem hingibt. Wenn nicht, habe ich auch schon ein jähes Hochschrecken und Angst wie vor dem Sterben erlebt. Zufällig, wie die Zu-Fälle eben so sind, bekam ich immer mehr Bücher in die Hand, die sich mit der Erfahrung dieser Schwärze befassten. Im Buddhismus wird ein Zustand beschrieben „Wie die Schwärze eine Neumondnacht im Herbst“. Rupert Sheldrake und Mathew Fox, unterhalten sich in dem Buch „Die Seele ist ein Feld“ über dieses Schwarz, Gurumayi nimmt in ihrem Buch „Yoga der Disziplin“ darauf Bezug, wenn sie vom Zeugenbewusstsein spricht, Baba Muktananda spricht vom schwarzen Licht des kausalen Körpers. Mir wurde immer klarer, dass es sich bei diesem Zustand weniger um ein Problem als um eine Lösung handelt. Dieser Zustand ist sehr nahe dem reinen Sein. Als ich dann die Beschreibung Ken Wilbers in dem Buch „Einfach dies“ von seinen Meditationserfahrungen las, konnte ich einen Bezug zu meinen eigenen Erfahrungen herstellen, wie sporadisch und rudimentär diese auch sein mochten. Mir wurde immer klarer, dass ich auf der Suche nach dem, der ich in Wirklichkeit bin, wirklich alles loslassen muss, was ein „Etwas“ ist. Ich bin nicht das oder das, nicht diese oder jene Erfahrung, nicht dieser oder der andere Zustand, mit dem ich mich identifiziere oder den ich noch suchen könnte. Ich bin der Raum, das Bewusstsein, in dem alle diese Zustände und Erfahrungen auftauchen, ein stiller, leerer, schwarzer, weiter Raum, eine Präsenz, in der alle Zustände und Bewusstseinsinhalte erscheinen. Diese Erkenntnis hatte etwas sehr Befreiendes. Was gab es da noch zu suchen? Welcher Zustand wäre besser oder schlechter wie der andere? Die Zustände und Erfahrungen tauchen auf und vergehen. Es gibt angenehme und unangenehme Erfahrungen, hohe und niedrige Zustände. Natürlich hat man lieber die angenehmen. Aber es verliert an Brisanz, wenn sie einmal nicht so sind, wie man es sich wünscht. Ohnehin vergehen alle, die angenehmen und die unangenehmen. Nur diese Präsenz bleibt. Es ist so, dass ich etwas in mir gefunden habe, das sich still und ruhig und dauernd anfühlt, und dass ich diesen Ort der Stille, Leere und Weite in mir immer wieder aufsuchen kann, auch wenn er mir genauso oft wieder abhanden kommt und ich mich wieder in die verschiedensten Identifikationen verstricke. Etwas in mir weiß, dass es Identifikationen sind und nicht meine Identität. Und das Erstaunlichste ist, dass etwas von mir abgefallen ist, das mich so viele Jahre dauernd begleitet hatte: das ewige Suchen. Dieses Gefühl des Getrieben seins. Als ob es etwas zu finden gäbe, da „draußen“, das Bestand hat.

Wenn ich mit diesem inneren Ort, den ich körperlich der Herzgegend zuordnen würde, in Verbindung bin, erscheinen mir viele Begegnungen wie ein Spiegel meiner selbst. Wenn ich die Probleme meiner Patienten höre, höre ich sie, als wären es meine eigenen. Immer mehr habe ich das Gefühl, ich werde mit Aspekten meines eigenen Selbst konfrontiert, die nicht getrennt von mir zu sehen sind. Die gleichen Fragen stellen sich im Äußeren wie im Inneren. Ich kann meinen eigenen Zustand an dem ablesen, was mir begegnet. Und das ist durchaus nicht immer angenehm. Nichts wird mir dadurch erspart oder abgenommen. Nichts wird besser oder schlechter dadurch. Es ist, wie es ist. Dennoch scheint es mir, dass ich etwas liebevoller auf Situationen eingehen und mich mehr dem widmen kann, was die Situation als solche verlangt.

Als ich das letzte Mal, im Sommer 2001, mit meiner Familie im Ashram in South Fallsburg war, hatte ich zwei Erfahrungen, die über das hinausgingen, was ich bis dahin gekannt hatte: Die eine Erfahrung hatte ich, als ich nach einer längeren Meditation im Tempel durch einen stillen Pfad durch den Wald ging. Es war die schlichte Erfahrung, „über eine Brücke zu gehen“. Etwas in mir war so vollständig zur Ruhe gekommen, dass da nicht ein Reinhard war, der über eine Brücke ging, sondern dass es eine reine Erfahrung von „über eine Brücke gehen“ war. Vollkommen unspektakulär, vollkommen einfach. Absolut nichts Besonderes. Und doch ganz neu für mich. Als sich danach wieder das Denken über die Erfahrung einschaltete, verlor der weitere Weg diese Einfachheit und Direktheit. Es gab wieder jemanden, der ging., den es zuvor für einen kurzen, zeitlosen Moment nicht gegeben hatte. Die Einheit der Erfahrung war wieder in eine Dualität auseinandergefallen.

Die zweite Erfahrung, die ich bei einem Intensivseminar mit Gurumayi hatte, erlebte ich wie eine Öffnung in einen himmlischen Bereich. In der intensiven Atmosphäre des Intensivseminars hatte ich bei einer Meditation die Vision einer Öffnung, die über die irdischen Bereiche hinausging. Gurumayi fungierte dabei wie ein offener Kanal. Und ich hatte die Vision von goldenen, strahlenden Buddhas, von erhabenen Wesen, die in diesen Regionen lebten. Ich war sehr überrascht, dass gerade Buddhas auftauchten und nicht hinduistische oder christliche Heilige oder Gottheiten, zu denen ich in meinem Alltagsbewusstsein viel mehr Beziehung habe. Allerdings brachte es wieder einer dieser Zu-Fälle mit sich, dass ich bald danach aufgefordert wurde, im darauffolgenden Herbst einen Artikel über den Buddhismus für den Newsletter zu verfassen und mich daraufhin dementsprechend intensiv mit dem Buddhismus auseinandersetzte.

Ich glaube, dass es für mich auf dem spirituellen Weg noch sehr viel zu entdecken gibt, und dass es vor allem noch eine große Aufgabe ist, die vielen Aspekte und Teile, die eben eine menschliche Person ausmachen, in langsamen und kontinuierlichen Schritten an diese tiefere Existenz, dieses tiefere Sein, dieses Ich, oder ICH-ICH, oder Selbst, oder Leere, oder Stille oder Gott, oder Buddha Natur, oder Christus Bewusstsein oder Tao oder die LIEBE, heranzuführen, dass sie heim kommen können zu dem, der nie fort war und der ich eigentlich bin.

OM NAMAH SHIVAYA - DEIN WILLE GESCHEHE

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